Wenn es sein muss, nimmt Kerstin Synnatzschke Urlaub, um beim Fahrradfest mitzuradeln. Sie rechnet mit dem Termin wie andere mit Heiligabend.
Zweimal ist sie untreu gewesen, und das Risiko, dass es bald wieder passiert, steigt in diesen Tagen deutlich. Ihr Mann findet nichts dabei, vielleicht freut er sich sogar ein bisschen. Er trägt einige Kilo mehr durchs Leben als seine drahtige Frau, die sich als die Fahrradverrückte in der Familie bezeichnet. Zwei-, dreitausend Kilometer strampelt Kerstin Synnatzschke durchs Jahr. Da rechnet sie die Kurzstrecken aber nicht mit, schreibt nicht auf, wenn sie für den Einkauf in der nächsten Stadt zehn Kilometer mit dem Mountainbike unterwegs ist. Was das abgegriffene, rote Rechenheft sehr wohl auflistet, sind die Fahrradfeste der Sächsischen Zeitung. Jahr für Jahr fährt Kerstin Synnatzschke mit. Ebenso der Mann, die Tochter, der Schwager, die Schwester vom Schwager, Freunde, Bekannte. Aber keiner so oft, so gern wie die Frau aus Mittelbach, einem Ortsteil von Großnaundorf bei Pulsnitz. Am Sonntag könnte sie Jubiläum feiern. Könnte sie ihre zwanzigste Teilnahme begießen. Könnte, hätte sie nicht zweimal gefehlt.
Beim ersten Mal ist es aus Unwissen passiert. Kerstin Synnatzschke hatte 1996 nicht mitbekommen, dass die SZ ein Fahrradfest ausrichtet. Ausgerechnet sie nicht, die seit der Schulzeit an Sattel, Lenker, Pedalen hängt. In ihrem Elternhaus bei Bischofswerda fehlte das Geld, um der Tochter ein Rad zu schenken. Doch holte der Sportlehrer das Mädchen in die Arbeitsgemeinschaft Radsport, die Schule stellte ein Rennrad. Seitdem ist Kerstin Synnatzschke nicht zu bremsen. Im vorigen Jahr fuhr sie 2152 Kilometer, steht im Rechenheft. „Ich bin froh, dass ich das Hobby gefunden habe: Du hast frische Luft und bewegst dich.“
Nun ist es nicht so, dass die 49-Jährige mit dem rotbraun gefärbten Kurzhaar den ganzen Tag am Schreibtisch säße. In einem Rinderzuchtbetrieb füttert und tränkt sie Kälber und schafft weg, was die Viecher fallen lassen. Schwere Arbeit. Auch privat gibt es genug zu tun im Haus, im Garten, mit den Tieren, darunter Wellensittiche, Hühner, Kaninchen, die Ziege Bürgi und der rot-weiß gescheckte Kater, der mit Vor- und Zunamen Pommes Schranke heißt. Das Radfahren braucht Kerstin Synnatzschke trotzdem oder gerade deshalb zum Entspannen. Sie sei, sagt sie und fuchtelt scherzhaft, „bissel hibbelig“. Tochter Vicky fuhr im Kindersitz mit, als die Familie 1997 erstmals beim Fahrradfest auf Tour ging. Ein Foto zeigt die Synnatzschkes mit dem Bahnradsportler Jens Fiedler. Über die Jahre kamen viele Fotos hinzu. Die Mutter breitet die handlichen Alben auf dem dunklen Holztisch in der Küche aus, während Hitradio RTL Michael Jackson spielt und Pommes zum Futter schleicht. Dann holt sie den Fußball, den die Tochter 1998 bekam, eine Auszeichnung für die damals jüngste Fahrradfest-Teilnehmerin. Dann bringt sie die Medaillen, die normalerweise oben im Computerraum auf dem Schrank liegen. Sie allein hat sich die 17 Plaketten an grünen Bändern verdient für ihre Teilnahme an 17 von 19 Fahrradfesten. Mann und Tochter lagern anderswo ihre eigenen Medaillen. „Die wurden von Mal zu Mal schöner“, sagt Kerstin Synnatzschke.
Die Preise sind das eine, weshalb sie immer wieder mitfährt, das andere sind Spaß und Tradition. Das Fahrradfest plant sie so selbstverständlich ein wie das jährliche Puhdys-Konzert auf der Kamenzer Hutbergbühne. Leicht kommt die Freizeitsportlerin mit Gleichgesinnten ins Gespräch. Sie trug zum Beispiel mal ein selbst gestaltetes T-Shirt mit der Aufschrift: „Die von der Dorfglitsche“. Da fragten andere Radler neugierig, welche Glitsche denn bitte schön gemeint sei, erzählt Kerstin Synnatzschke und lacht.
In ihrem Schrank hängen etliche Trikots, so wie bei anderen Frauen Blusen. Im Keller warten drei Räder. Schon zweimal hat sie beim Fahrradfest Strecken von mehr als hundert Kilometern geschafft. Meist hat sie jemanden an ihrer Seite, auch wenn Familienmitglieder und Freunde gern kürzere Strecken wählen. Ein bisschen ist es mit der Radelsause wie mit Heiligabend, wenn Kerstin Synnatzschke sagt: „Zum Fahrradfest krieg’ ich im Prinzip meine Familie zusammen.“ Im Prinzip, weil Schichtdienst den Wunsch manchmal durchkreuzt. Die Tochter, Produktionsmitarbeiterin für Medizintechnik in Radeberg, bekam in den letzten Jahren nicht frei.
Kerstin Synnatzschke macht trotzdem weiter. Wenn es sein muss, nimmt sie Urlaub für den Fahrradfesttag. Ihre Sommerferien planen sie und ihr Mann so, dass sie in Dresden starten können. Bis auf das eine Mal vor drei Jahren, da ließ der Urlaub in der Lüneburger Heide sich nicht verlegen. So fiel das Fahrradfest für sie zum zweiten Mal aus. Gefaulenzt haben die Synnatzschkes nicht. Natürlich fuhren sie Rad. Dafür hat die Frau gesorgt. „Ich versuche es immer so zu organisieren, dass der Mann nicht sagt: Nächstes Jahr machen wir was anderes.“
Aber ausgerechnet zum 20. Fahrradfest an diesem Sonntag könnte der Mann dem Sportsgeist seiner Frau in die Quere kommen. Er kann nichts dafür. Lutz Synnatzschke wird am Vortag 50. Zur Feier kommen vierzig Gäste ins Partyzelt im Garten. Das kann ein langer, ein sehr langer Abend werden. Deshalb will Kerstin Synnatzschke in diesem Jahr nur dreißig Kilometer mitstrampeln. Sie hofft, dass es klappt. Lieber kurz als gar nicht, lieber dabei sein als zum dritten Mal untreu. Nein, sie will das jetzt nicht mit dem Weltuntergang vergleichen, würde sie beim Fahrradfest fehlen. Aber sich ärgern, das würde sie schon. „Es gehört einfach dazu.“
Rafael Barth (SZ, 01.07.2015)